Schichtwechsel | Wechselschicht

Interview mit dem Künstler Frederick Vidal
Text: Andreas Obermann Photos: Frederick Vidal Photos: Jens Lambrecht
Mich begeistert der Gedanke einer ‚zeitgenössischen Archäologie‘ – in meiner Arbeit versuche ich, Spuren und Fragmente der Realität freizulegen und ihnen eine neue Ordnung zu geben. Besonders faszinieren mich Motive, in denen mehrere Kräfte zugleich wirken und so verschiedene Ebenen entstehen lassen.
Frederick Vidal
Frederick Vidal
Foto: Jens Lamprecht

Von dir hängen in der Lobby Werke aus den vergangenen 20 Jahren, die jetzt unter dem Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ zu sehen sind. Was bedeutet er?

Der Titel lässt sich auf verschiedene Weisen interpretieren. In meinen Arbeiten spielen Ebenen und Schichten eine zentrale Rolle – besonders sichtbar in den Kaugummiarbeiten (*Don’t You Forget About Me*) und bei den Kachelmotiven auf den Einladungskarten. Hier geht es um das Überschreiben: Der Mensch überschreibt die Natur oder sich selbst und wird wiederum überschrieben. Dadurch entstehen fortlaufend neue Schichten, was ich besonders spannend finde. Das ist auch in den farbigen Fotografien präsent: Ein Graffiti sollte beispielsweise entfernt werden, doch es bleibt ein Bild zurück, eine neue Schicht – daher der Titel *Schichtwechsel*. In vielen meiner Fotografien wird sichtbar, wie der Mensch durch seine Spuren sich selbst überschreibt, sei es in der Natur oder in urbanen Landschaften. Die verschiedenen Ebenen der Realität wachsen im Bild zu einer neuen, zusammenhängenden Schicht.

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Bisher hast du sowohl in Einzel als auch in Gruppenausstellungen in Galerien ausgestellt. Jetzt zeigst du sie in einem öffentlichen Raum, wie der Hotellobby. Was ändert sich bei der Werksauswahl?

In diesem Kontext habe ich natürlich berücksichtigt, wie unterhaltsam und zugänglich meine Fotografien sein können. Um diesen Raum zu gestalten habe ich mich entschieden, die ansprechendsten Bilder aus verschiedensten Serien auszuwählen um eine offene und einladende Wirkung zu erzielen. 

Gleichzeitig sind deine Werke nicht unbedingt gefällig und auf den ersten Blick sofort zu entschlüsseln. Sie haben ja schon eine gewisse Tiefe.

Ja, natürlich. Das liegt in der Natur der Sache. Hinter jedem Bild stecken lange Überlegungen, die Bilder sind Teile verschiedener Serien, über die ich mir viele Gedanken gemacht habe und die mich teilweise immer noch beschäftigen. Das bringt natürlich auch unterschiedliche Inhalte mit sich. Für die Ausstellung im Karl August war mir eine gute Abfolge wichtig. Wir haben eine ausgewogene Mischung gefunden zwischen Inhalt und formeller Anordnung von Farbe, Textur und Format. Das Bild, bei dem wir gerade sitzen, wirkt fast so, als wäre es speziell für diese Wand produziert worden. 

Du meinst das Bild „Faksimile“.

Es entstand 2017 und zeigt Fußabdrücke im Beton. In dieser Zeit kam auch der Begriff der „zeitgenössischen Archäologie“ zu mir. Ich fand es faszinierend, wie sich diese Spuren im Material verewigt haben. Die Frage ist, ob die Abdrücke in das Bild hineingehen oder aus ihm herauskommen. Wie wirkt das auf dich? 

Für mich sieht es so aus, als kämen die Fußabdrücke aus dem Bild heraus.

Das ist interessant, unsere Wahrnehmung wird stark durch den Fall des Lichts geprägt. Normalerweise haben wir in der Natur ein Licht, das von oben kommt. Wenn das Licht aber von unten kommt – wie es oft in Horrorfilmen genutzt wird, um eine unheimliche Atmosphäre zu schaffen – verändert sich die Wirkung drastisch. Wenn du das Bild auf den Kopf drehst, dann siehst du die Abdrücke plötzlich so, als ob sie in den Beton hineingehen. 

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Sobald man es einmal so betrachtet hat…

…kann man den Unterschied deutlich erkennen – das liegt an der Illusion, die durch die Lichtquelle entsteht. Ich finde es spannend, wie diese optische Täuschung entsteht. 

Welche Arbeiten sind in der Lobby noch zu sehen?

In der Lobby ist unter anderem eine Auswahl der zehnteiligen Serie *Don’t You Forget About Me* zu sehen. Diese Arbeiten zeigen Teile der Berliner Mauer, an denen es Kult geworden ist, gekaute Kaugummis anzukleben – ähnlich wie die „Liebesschlösser“ an Brücken, als ein Symbol für Verbundenheit. Manche Menschen kauen gemeinsam Kaugummi und hinterlassen ihn dort, andere nutzen es als persönliche Spur. Für mich ist das eine faszinierende Sammlung von DNA und Ausdruck des Wunsches, Spuren zu hinterlassen. Dieses Thema der Überlagerung und Hinterlassenschaften – also des Sichtbarmachens persönlicher Geschichten – zieht sich auch durch meine Arbeit und reflektiert mein eigenes Bestreben, Kunst zu schaffen, die überdauert. Einer der besonders reizvollen Aspekte ist, dass ich Alltägliches fotografiere und durch die Kunst in eine neue Dimension überführe. Sobald ein Werk als Kunst etabliert ist, wird es vielleicht wertgeschätzt und bewahrt, wodurch das fotografierte Objekt ein längeres Leben erhält. Damit kann ich auch eher unscheinbaren Orten, wie beispielsweise Kläranlagen, Tribut zollen und sie auf eine besondere Weise würdigen… 

… die vielleicht irgendwann einfach abgerissen werden.

Also ob sie nie da gewesen wären. Kläranlagen werden wir sicherlich weiterhin brauchen, aber einige Errungenschaften stellen wir relativ lieblos beiseite. Für mich sind dies alles kleine Geotope und vielleicht kann man aus dem Bild eines Tages eine neue Erkenntnis gewinnen. Ich finde, man kann diese Dinge ästhetisch konservieren und bewahren. Sie verdienen ein bisschen Ehre – gerade Dinge, die oft nicht beachtet werden, wie Kaugummis als Liebesbeweise. 

Wann war dein erster Berührungspunkt mit der Fotografie?

Meine erste Begegnung mit der Fotografie fand schon in der Schulzeit statt, als ich Fotokurse belegte und sofort eine Faszination für das Medium verspürte. Deutlicher wurde es dann während meines Zivildienstes, als ich vor der Entscheidung stand, welchen beruflichen Weg ich einschlagen wollte. Auf der Suche nach einer erfüllenden Tätigkeit besuchte ich einen Fotokurs an der Volkshochschule – ab diesem Moment ließ mich die Fotografie nicht mehr los. Das weckte in mir den Wunsch, nicht nur eine Ausbildung zu machen, sondern Fotografie auf einem tiefergehenden Niveau zu studieren. So führte mich mein Weg schließlich an die Kunsthochschule Kassel. Interessanterweise hatte ich anfangs den Traum, Regisseur zu werden, und verbrachte zwei Jahre damit, Filme zu drehen. Aber nach zwei Jahren und gerade mal 20 Minuten fertigem Film habe ich gemerkt, dass mir das alles zu langwierig war. Diese Erfahrung führte mich zurück zur Fotografie, die mich mit ihrer Unmittelbarkeit und Flexibilität stärker ansprach. Zunächst dachte ich, ich würde als Modefotograf arbeiten, aber die Kunst zog mich immer mehr in ihren Bann. Und sobald ich einmal in diese Welt eingetaucht war, gab es kein Zurück mehr – sie hat mich völlig gefesselt. 

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Wie entscheidend war das Studium in Kassel für deinen Werdegang?

Sehr entscheidend. Das Studium in Kassel ist unglaublich frei gestaltet und hat gut zu mir gepasst. Nach einem Jahr bekommt man die Schlüssel für den eigenen Bereich und kann dann Tag und Nacht dort arbeiten. Das war genau mein Ding. Ich habe dadurch einen enormen Fleiß entwickelt, weil es mir so viel Spaß gemacht hat, diese Freiheit voll auszukosten. Besonders wertvoll war auch die Möglichkeit, ungerichtete Forschung zu betreiben. Die Kunsthochschule Kassel folgt keinem klassischen schulischen System und ist sehr interdisziplinär ausgerichtet, was mir sehr entgegenkam. Es hat mich dazu ermutigt, verschiedene Bereiche zu erkunden und kreativ zu experimentieren – das war genau das, was ich brauchte. 

Du warst danach noch Meisterschüler bei Bernhard Prinz, der hier auch schon ausgestellt hat. Wie stark hat dich dieses Studium bei ihm geprägt?

Bernhard Prinz stieß leider erst relativ spät dazu. Als ich anfing, war Floris M. Neusüss, Professor für experimentelle Fotografie, noch an der Hochschule, nahm jedoch keine neuen Studierenden mehr auf. Daher hatte ich lange Zeit keinen Fotografie-Professor in Kassel fotografierte aber trotzdem viel. Als Bernhard Prinz schließlich kam, war das eine große Bereicherung für mich. Er prägte meine künstlerische Sichtweise maßgeblich und brachte mich dazu, meine bisherigen Arbeiten noch einmal zu überdenken. Dadurch erhielt ich eine neue Perspektive auf die Motive, die ich früher fotografiert hatte. 

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen euren Arbeiten?

In Landschaftsaufnahmen interessieren wir uns zwar für ähnliche Dinge, aber unsere Herangehensweisen sind doch sehr unterschiedlich. Wir nähern uns aus unterschiedlichen Richtungen vielleicht ähnlichen Motivgruppen. Bei mir sind es das Chaos und die Menge an Entropie, die mich zu meinem Motiv führt, bei Bernhard eher eine stoffliche und Inhaltliche Anmutung mit viel Symbolik und Bezügen zu seinen Porträtaufnahmen. Was uns sicherlich verbindet, ist der Anspruch, mit der Fotografie an der Wand ein Kunstwerk zu schaffen. Wir legen beide großen Wert auf Details – sei es in der Wahl des Materials, der Rahmung oder der Papierqualität und -verarbeitung. Diese Präzision und Hingabe teilen wir. 

Gibt es noch andere Fotografen oder Künstler, die dich geprägt haben?

Es gibt immer wieder Künstler*innen, die mich von Zeit zu Zeit stärker begeistern und inspirieren und so Einfluss auf meine Arbeit haben. In der Fotografie bin ich sehr durch eine amerikanische Fotografie geprägt worden. William Eggleston, Joel Meyerowitz, Larry Clark. Erst später durch die NEUE deutsche SACHLICHKEIT wie Bernd und Hilla Becher. Der Hyperrealismus bei Andreas Gursky z.b. hat als Student bei mir den Wunsch geweckt, mit meiner Arbeit am liebsten die ganze Welt erklären zu wollen. Farblich war ich begeistert von der Tonalität bei Anselm Kiefer oder Francis Bacon, die sich durch das ganze Werk zieht. Oder die Leere und Schwere bei Cy Twombly. Ich könnte noch eine Weile so weitermachen, es gibt wahnsinnig viele spannende Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeit mich beeindruckt. Gerade bin ich sehr fasziniert von der Idee des Remix. In der Musik kennt man das ja. Der Musiker Roots Manuva zum Beispiel bringt im Folgejahr nach jeder Neuveröffentlichung das gleiche Album in einer überarbeiteten Version heraus. Georg Baselitz malt auch einige Werke wieder neu und nennt sie Remix, was eigentlich im Medium Malerei ein Absurdum ist. Aber inhaltlich auch irgendwie nicht. In der Fotografie sehe ich da gerade sehr viele sehr spannende Möglichkeiten. 

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Hast du ein Beispiel?

Meine neueste Arbeit „Feldarbeit 06 – REMIX“ habe ich ursprünglich 2007 aufgenommen. Erst jetzt kam die Idee zur Weiterverarbeitung über die sogenannten Remixes. Dabei greife ich auf ältere, analoge Fotografien zurück und überführe sie in neue Bilder mit neuen Strukturen. Auf den ersten Blick scheint das Bild unverändert das Motiv eines abgeernteten Kohlfelds wiederzugeben, doch bei genauerem Hinsehen entfalten sich überraschende Details: Die Blätter des Kohls verwandeln sich in eine abstrakte Landschaft aus Bergen und Tälern. Ein Vexierspiel das sich lange aufrecht erhält. 

Gerade an den Rändern sieht man „Wälder und beschneiten Hügel“. Man könnte denken, das liegt irgendwo in den Alpen.

Es ist faszinierend, wie manche Dinge im Großen und im Kleinen nach ähnlichen Regeln verlaufen. Diese Blattstruktur und die Adern im Blatt verlaufen ähnlich wie ein Fluss, der sich über Jahre seinen Weg durch die Landschaft gräbt und Täler entstehen lässt. Diese Arbeit ist die aktuellste und die, die mich gerade am meisten beschäftigt. Es könnte eine kleine Zeitenwende sein, denn das Motiv wäre vor zwei Jahren noch nicht möglich gewesen. 

Inwiefern?

Es steckt schon enorme Arbeit dahinter, doch ohne KI wäre dieses Ergebnis so kaum erreichbar gewesen. Gerade das fasziniert mich zurzeit: Wie verändert KI unsere visuelle Welt? Welche neuen Bildwelten können dadurch entstehen? Mein Ziel ist es keineswegs, einfach ein fotorealistisches Bild mit KI zu erzeugen – das allein finde ich wenig spannend. Aber ich sehe darin eine inspirierende Möglichkeit, neue Richtungen und Perspektiven zu erkunden. 

Weil der fotografische Aspekt fehlt?

Absolut. Eine Fotografie als Abbild der Wirklichkeit muss für mich den Ausgangspunkt bilden. Die pure Generierung einer vermeintlichen Fotografie mittels KI verliert diese Anknüpfung. Aber ich beobachte die Entwicklung von Fotografie mit Hilfe von KI mit großem Interesse. Das ist ein spannender Punkt, was das mit uns als Menschheit machen wird. Unser vertrautes Sehen verändert sich gerade unwiederbringlich. 

Das stimmt. So wie wir aufgewachsen sind, war ein Foto für uns ein Dokument der Wirklichkeit.

Genau. Das war es, solange man uns ein Foto gezeigt hat, das etwas abgebildet hat. Aber seit Jahren, angefangen mit Photoshop, sind die Möglichkeiten zur Manipulation so vielfältig, dass wir heutzutage stärker hinterfragen müssen: Was sehen wir da eigentlich? 

Du bist in Marburg geboren und hast 75 Kilometer weiter in Kassel studiert. War Heimat für dich ein wichtiges Thema oder hattest du eher das Bedürfnis, weit wegzugehen?

Eigentlich beides. Auch wenn das ein bisschen widersprüchlich klingt. Ich wollte immer in die große weite Welt, so weit weg wie möglich – und dann bin ich in Kassel gelandet. Ursprünglich wollte ich viel reisen, Dinge fotografieren, die noch niemand gesehen hat, aber das hat aus finanziellen Gründen nie so richtig geklappt. Mit der Zeit habe ich dann gemerkt, dass ich vielleicht gar nicht so weit weg muss, um Unbekanntes zu entdecken. Ich begann, im Lokalen nach Orten zu suchen, die kaum jemand wahrnimmt – Plätze, die schwer zugänglich sind oder die aus gesellschaftlichen Gründen ein Schattendasein fristen. So bin ich auf die Idee gekommen, beispielsweise Kläranlagen, Tierkörperverwertungsanlagen oder Mülldeponien zu fotografieren. Das sind Orte, die wir oft nicht sehen oder bewusst meiden, obwohl sie eine zentrale Funktion für unser Leben spielen. Diese unbemerkten Aspekte unserer Welt wollte ich festhalten. Einige dieser Bilder hier vorne sind in Kläranlagen entstanden. Sie zeigen eben diese Orte, die in der Peripherie unserer Wahrnehmung belegen sind. 

Die Motive, die du aufnimmst, bilden zwar die Wirklichkeit ab, aber sind nicht klassisch dokumentarisch. Wie ist deine Herangehensweise bei diesen Projekten?

Im Idealfall hat das Motiv, das ich finde, mehrere Ebenen. Der zweite Blick lohnt. Es macht mich glücklich, wenn ich in einer Kläranlage beispielsweise ein schwarzes Becken entdecke, das verschiedene Schichten hat und angeblitzt plötzlich aussieht wie eine Aufnahme aus dem Weltall. In solchen Momenten funktioniert das Bild für mich am besten, weil es mehrdeutige Assoziationen weckt und dadurch eine tiefere Bedeutungsebene freilegt. Ich möchte den Ort, also die Kläranlage, nicht erklären oder eine klassische Geschichte erzählen. Es geht mir vielmehr darum, ein rätselhaftes Motiv zu schaffen, das mehrere Interpretationsebenen anbietet.

Der Titel der Arbeit ist Per Aspera Ad Astra, was ja „Durch Mühsal zu den Sternen“ bedeutet. Normalerweise denkt man dabei an den Weltraum, aber für mich war es damals eine persönliche Metapher: Ich hatte viel Arbeit und Erspartes in das Projekt gesteckt und dachte mir, sinngemäß, „durch die Mühsal zu den Sternen“ – oder in meinem Fall: durch die harte Arbeit zum Erfolg. 

Die Arbeiten, die du in der Lobby ausstellst, haben ganz unterschiedliche Maße. Welche Rolle spielt für dich die Größe der Prints?

Die Größe spielt definitiv eine entscheidende Rolle. Ich vergrößere meine Aufnahmen nicht künstlich, wenn überhaupt verkleinere ich sie. Das bedeutet, die hier gezeigten Bilder sind oft in einer reduzierten Größe gegenüber den ursprünglichen Aufnahmen. Normalerweise präsentiere ich meine Arbeiten in Lebensgröße, also so, wie ich die Motive vor Ort wahrgenommen habe, wie bei den Kaugummi-Arbeiten. Eine Ausnahme bildet das Kohlbild, das ist vergrößert. 

Arbeitest du immer noch analog?

Ja, mit großer Passion. Aber es gibt einige Projekte, bei denen ich auf digitale Technik zurückgreifen muss, weil die Umsetzung sonst zu kostspielig wäre. In solchen Fällen leihe ich mir manchmal eine hochwertige Digitalkamera und setze die Ideen digital um. Aber meine Vorliebe gilt ganz klar der analogen Fotografie. Ich schätze das Material sehr und kenne mich gut damit aus. Die Herausforderung, der Nervenkitzel – wenn ich die Filme ins Labor bringe und dann nur noch hoffen kann, dass alles gut geworden ist – macht für mich immer noch einen Reiz aus. Darüber hinaus ist es mir wichtig, nicht zu viele Bilder zu machen. Ich konzentriere mich während der Aufnahme sehr intensiv auf das Motiv und visualisiere bereits im Kopf das fertige Bild. Ich überlege genau, wie ich das Licht einsetzen möchte, um bestimmte Effekte zu erzielen. Wenn ich beispielsweise das Licht so setze, kann ich die Tiefe aus dem Motiv herausnehmen und es flach wirken lassen. Diese Vorstellung wächst bereits vor meinem inneren Auge, und das macht den analogen Prozess für mich so spannend. 

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Arbeitest du hauptsächlich mit Negativfilm?

Früher habe ich viel experimentiert, um meinen eigenen, persönlichen Look zu entwickeln. In den 90er Jahren war die Crossentwicklung in der Modefotografie sehr populär. Man hat einen Diafilm genommen und ihn als Negativfilm entwickeln lassen, was zu ganz außergewöhnlichen Farben und Kontrasten führte. Das ist jedoch nicht mehr mein Fokus. Heute bevorzuge ich professionell gelagerten und produzierten Film, auch wenn er teurer ist. Mir geht es darum, die Wirklichkeit so abzubilden, wie ich sie wahrnehme. Ich möchte die Feinheiten und Nuancen der Realität festhalten, anstatt durch extreme Effekte von ihr abzuweichen. 

Du zeigst in der Lobby verschiedene Formen wie Diasec, Pigmentdruck, Acrylglas, Kodak Metallic und Schattenfugenrahmen. Welche Rolle spielt die Präsentation deiner Arbeiten?

Die Präsentation spielt eine entscheidende Rolle für meine Arbeiten. Im Idealfall entsteht ein ganz neues Objekt daraus. Zum Beispiel, wenn ich das Einladungsmotiv mit den Fliesen nehme, sieht man oben den dünnen Metallrand. Das ist kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung und verleiht der Arbeit in Verbindung mit dem Metallrahmen Dreidimensionalität. Ob ein Motiv glänzend oder matt ist, entscheidet sich immer individuell und hängt von der jeweiligen Arbeit ab. Für die Kaugummi-Bilder habe ich mich beispielsweise für eine glänzende Präsentation entschieden, weil ich wollte, dass sie leuchten und anziehen. Gleichzeitig bekommen sie durch die Acrylglasschicht eine konservierte Anmutung. Meine oben erwähnte Arbeit vom Kohlfeld ist auf richtigem Fotopapier ausbelichtet. Es war mir wichtig, dass sie auf glänzendem Fotopapier gedruckt wird, um die Echtheit der Fotografie und die Tiefe der Farben sowie die Brillanz der Details hervorzuheben.

Die Beschaffung war ziemlich kompliziert, denn Kodak stellt das glänzende Papier seit einigen Jahren nicht mehr her. Während der Produktion ist dem Labor in Berlin tatsächlich das Papier ausgegangen. Nachdem wir mehrere Tage Teststreifen gemacht hatten und alles stimmte, wurde das letzte Papier in die Maschine eingelegt, aber es gab einen Fehler, und das Papier wurde zerstört. Eine Woche vor der Vernissage. Ich habe dann fieberhaft in Deutschland nach einem Labor gesucht, das noch Kodak-Papier führt, und habe schließlich ein Labor in Stuttgart gefunden. Dort wurde meine Arbeit realisiert. 

Wie gehst du vor, wenn du eine neue Serie produzieren möchtest?

Das ist unterschiedlich. Ich habe mehrere Werkgruppen, die schon seit Jahren bestehen und nicht als abgeschlossen gelten; da kommen immer wieder neue Bilder hinzu. Eine neue Werkgruppe kann auch durch ein einzelnes Motiv entstehen. Ich trage fast immer eine Kamera mit mir herum. Es kann ja sein, dass ich beim Flanieren ein Fotomotiv sehe. In Kassel lehrte Lucius Burkhardt, der die Strollology, also die „Spaziergangswissenschaften“, entwickelte. Er vertrat die Philosophie, dass man einen Ort nur richtig begreifen kann, wenn man ihn durchwandert, also wirklich herumläuft und die Augen aufmacht.

Ich fotografiere analog, und viel passiert nach intensiver Recherche. Oft finde ich ein Thema oder einen Bereich, der mich interessiert, und fahre dann mit einer kleinen Kamera dorthin, um erste Aufnahmen zu machen. Wenn ich sehe, dass das Motiv Potenzial hat, fahre ich erneut mit einer größeren Fachkamera hin. Im Labor mache ich dann Testabzüge, damit ich die Aufnahme als echten Handabzug in Farbe sehen kann. Mir ist es wichtig, dass die Bilder diese analoge Tonalität und das Kontrastverhältnis beibehalten, das nur analoges Papier bietet. Sobald ich mit dem kleinen Abzug zufrieden bin, lasse ich das Negativ scannen und realisiere den großen Print an Hand des analogen Abzuges. 

Wie war es bei dem Foto in der Kirche?

Es gehört zu einer ganz neuen Serie, über die ich noch nicht viel sagen kann, da sie sich gerade erst entwickelt. Ich bin ein großer Bewunderer der Arbeiten von Vilhelm Hammershøi, der schlichte, reduzierte Räume malte – meist in seiner eigenen Wohnung – und das besondere Spiel des Lichts in diesen Räumen festhielt. Inspiriert davon überlege ich, das Licht selbst zum Motiv zu machen, es ganz für sich zu fotografieren. Ohne einen Raum funktioniert das jedoch nicht ganz. 

Wo ist das Bild entstanden?

Das Foto wurde in einer Kirche in Gruorn aufgenommen, einem kleinen Dörfchen in der Schwäbischen Alb. Dieses Dorf liegt auf einem alten Truppenübungsplatz, der schon zu Kaiserzeiten genutzt wurde. Irgendwann wurde das Dorf dann umgesiedelt, um Platz für militärische Übungen, wie etwa den Häuserkampf, zu schaffen. Besonders an dieser Kirche ist, dass dort einmal im Jahr noch ein Gottesdienst für die ehemalige Dorfgemeinde abgehalten wird, obwohl das Dorf nicht mehr existiert. Heute ist das Gebiet ein Naturschutzgebiet und wird nicht mehr militärisch genutzt. 

Wie hat dieser besondere Ort deine Arbeit beeinflusst?

Die Atmosphäre in der Kirche war auf jeden Fall besonders, und das spiegelt sich auch im Bild wider. Es war nicht mein erstes Bild, das sich mit Licht beschäftigt, aber es ist das erste, das ich in einer Ausstellung zeige. Die Farben und die Stimmung in der Kirche haben einfach wunderbar in den Rahmen der Ausstellung gepasst.